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Von: Jakob Maurer
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Wie gerecht sind die US-Wahlen? Dokumentarfilmerin Maximina Juson klärt über die Mängel des Wahlsystems auf. Erster Teil US-Wahl-Serie der FR.
Dann knallt die Kamera auf den Boden. Zu sehen ist nur noch der körnige Asphalt von Washington. Zu hören sind die Beschimpfungen, die Drohungen: „Leg dich nicht mit uns an, denn wir haben die Schnauze voll!“, warnt ein Protestierender die Filmemacherin. „Wir wollen hier keine Fake-Medien!“, brüllt eine Frau.
Immer wenn Maximina Juson ihre Aufnahmen vom 6. Januar 2021 sieht, sagt sie, schlage ihr Herz schneller. Als das System zu kollabieren drohte, stand sie hinter der Kamera und im Auge des Kapitolsturms. Als „fly on the wall of history“, wie die US-amerikanische Dokumentarfilmerin ihre Rolle beschreibt: als „Fliege an der Wand der Geschichte“.
Unbeachtet und unbeteiligt wollte sie in Washington die Wahl von Joe Biden ins Amt des US-Präsidenten dokumentieren. Unbeachtet blieb sie inmitten des von Wahlverlierer Donald Trump aufgehetzten Mobs an diesem Januartag nicht.
US-Wahl im November: Demokratie mit Missständen
Doch die Aufnahmen konnte sie retten. Jetzt, dreieinhalb Jahre später, tourt Juson mit ihrem Film „One Person, One Vote?“ – „Eine Person, eine Stimme?“ – durch die USA, um die Menschen über das Wahlsystem aufzuklären, „denn bevor wir begreifen können, wie kaputt es ist oder ob es kaputt ist“, sagt sie, „müssen wir es erst einmal verstehen.“
Derzeit starrt die Welt wieder gebannt auf die US-Wahlen und bangt um die älteste Demokratie. Neben den Angriffen von rechts auf Presse, Justiz und Grundrechte gilt schon seit Jahren das Wahlsystem als problematisch. 2016 verlor Hillary Clinton gegen Donald Trump, obwohl sie, alle Staaten zusammengerechnet in der sogenannten Popular Vote, fast drei Millionen mehr Stimmen sammelte. Weil die Swing States alles entscheiden, reisen die Nominierten fast nur noch dorthin, der Rest geht unter. In republikanisch oder demokratisch dominierten Staaten fragen sich die Anhängerinnen und Anhänger der schwächeren Seite deswegen: Warum soll ich überhaupt wählen gehen?
Diese Missstände spielen auch in Jusons filmischer Erzählung über das Electoral College eine Rolle. Jenes Gremium der 538 Wahlmänner und -frauen aus allen Teilen der USA, das anstelle des Wahlvolks das Staatsoberhaupt bestimmt. Jusons Ziel: ein frischer Blick auf ein angestaubtes System. „Es ist ein großer Makel für die Amerikaner, dass die große Mehrheit, egal wie hoch das Bildungsniveau, weder versteht, wie genau das Electoral College funktioniert noch wie es entstanden ist“, sagt Juson.
Ein Grund dafür ist dessen lange Geschichte. Die Dokumentation, Jusons Langfilm-Debüt, setzt deshalb im Jahr 1787 in Philadelphia an: dem Geburtsort der US-Verfassung, eines „neuen und revolutionären politischen Systems“. Hier vereinbarten die Gründungsväter um George Washington, dass die wahlberechtigte Bevölkerung nicht direkt über den Präsidenten abstimmt, sondern indirekt über „electors“, also Wahlleute. Deren Anzahl leitet sich pro Staat von den jeweiligen Sitzen im US-Kongress ab, dazu kommen drei aus dem District of Columbia, der Hauptstadt.
„Wow“, habe sie zu hören bekommen, als die Independent-Filmemacherin von ihren Plänen berichtete, „das klingt nach einem trockenen Thema. Und ich habe gelacht und gesagt: ‚Ja, scheint so, aber eigentlich ist es eine ziemlich dramatische Geschichte.‘“
„Zustand der Verwirrung“ rund um das US-Wahlsystem
Denn auch das Thema Sklaverei prägt die Debatte. Im Film setzt Juson dabei auf kunstreiche Collage-Animationen, die zeigen, dass in den USA damals von rund drei Millionen Menschen etwa 700 000 Sklavinnen und Sklaven waren, fast alle Schwarz und fast alle im Süden in Gefangenschaft. „Eine Person, eine Stimme“ galt damals noch weniger als heute, Grundrechte blieben ihnen verwehrt, auch das Wählen.
Doch die Südstaaten erzwangen eine Klausel, die ihnen mehr Gewicht verlieh. Zur freien Bevölkerung wurden drei Fünftel der unterdrückten Schwarzen dazugerechnet, ohne das die davon profitierten. Dadurch vermehrten die Südstaaten die Zahl ihrer Stimmen im Electoral College – und zehn der ersten zwölf US-Präsidenten waren Sklavenhalter. Nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert verschwand die rassistische Klausel, doch die Unterdrückung setzte sich fort.
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Schnitt ins Jahr 2020: Ein weiterer Grund für den mit Jusons Worten „Zustand der Verwirrung“ rund um das US-Wahlsystem ist, dass die Wahlmänner und -frauen kaum bekannt sind. Im Film stellt sie vier von ihnen aus dem Bundesstaat Colorado vor. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Da ist ein Schwarzer Republikaner, eine demokratische Latina, eine trans Vertreterin der Grünen Partei der USA und ein junger Mann, der Wahlmann für Kanye West als Präsidenten gewesen wäre, hätte dieser den Staat gewonnen. Der umstrittene US-Rapper war 2020 in zwölf Bundesstaaten als Kandidat zugelassen und holte rund 70 000 Stimmen – eine Fußnote. Joe Biden gewann Colorado, von den vier Filmfiguren durfte letztlich nur die Demokratin Polly Baca gemeinsam mit den acht anderen Wahlleuten ihrer Partei am 6. Januar 2021 nach Washington reisen. So funktioniert das System: The winner takes it all.
Doch gewonnen wurde 2020 in Colorado noch mehr: der „National Popular Vote Interstate Compact“. Hinter dem Wortungetüm steht so viel wie der „Zwischen-bundesstaatliche Pakt für die landesweite Wählerstimmenzählung“, der sich seit 2006 im Land ausbreitet. Seine Fürsprecher:innen wollen eine Direktwahl des Staatsoberhaupts erreichen, ohne die Verfassung ändern zu müssen. Letzteres scheint aufgrund der politischen Spaltung ausgeschlossen.
„Es liegt an den Menschen, Amerika zu retten“
Jusons Film zeigt, wie 2020 in Colorado Demokraten dafür und Republikanerinnen wie die Trumpistin Lauren Boebert dagegen auf die Straße gehen. Am Ende tritt Colorado dem Pakt bei, einer von 17 Staaten. Zusammen vertreten sie 209 der 538 Sitze im Electoral College. Festgeschrieben ist: Werden daraus 270, die absolute Mehrheit, dann würde die Regelung greifen und die Staaten sich unabhängig vom eigenen Ergebnis der „Popular Vote“ beugen. Doch auch dieses Ziel ist aufgrund der politischen Spaltung in weiter Ferne.
Nach der Vorführung beim Pan African Film Festival in Texas fragt Juson das Publikum: „Wer hat davon schon gehört?“ Nur vier Hände gehen hoch – genau das will sie ändern. „Es liegt an den Menschen, Amerika zu retten. Wir erwarten von den Politikern, dass sie das tun. Aber der wirkliche Wandel kommt von unten. Im Moment sind wir so ohnmächtig, weil es uns an Verständnis und Informationen fehlt. Wir haben nicht das Wissen, um wirklich etwas zu verändern.“
Juson erinnert sich an einen Geschichtslehrer, der ihr politisches Interesse entfachte. Er hat Eindruck hinterlassen. Sie selbst kam als Kleinkind in die USA, lebte bis in ihre Zwanziger mit dem philippinischen Pass im Land, bekam eine Green Card und ist nun US-Staatsbürgerin. Jetzt will sie mit dem Film an Schulen zurückkehren, auch um den jungen Menschen zu zeigen, „dass eine Einwanderin sich derart für unsere Demokratie begeistern kann“.
Zuvor hatte sie viele Jahre anderes als Politik im Sinn. Sie tourte als Musikerin und Spoken-Word-Künstlerin, arbeitete als Spieleentwicklerin. Jetzt hat sie sich ganz dem Film verschrieben, sagt aber auch: „Es wäre anders gewesen, wenn ich nur Filmemacherin gewesen wäre.“
Hitzige US-Wahl steht bevor: „Patriotismus kann sehr unterschiedlich aussehen“
Das zeigt sich im Facettenreichtum von „One Person, One Vote?“: Neben den farbenfrohen Illustrationen treten in den historischen Passagen Schwarze Schauspieler auf, die in Sklavengewändern die Debatten der Gründungsvater voll Inbrunst vortragen. Sie will die Schwarzen Vorfahren würdigen sowie die Rolle, „die sie gespielt haben, um dieses Land erfolgreich zu machen, all die freie Arbeitskraft, die sehr zum Wohlstand dieses Landes beigetragen hat“.
Juson plädiert: „Patriotismus kann sehr unterschiedlich aussehen, er kann von verschiedenen Menschen kommen.“ Am Ende singt einer der Schwarzen Künstler die Nationalhymne, Juson betont als Person of Color und Einwanderin. Gemeinsam mit ihrem Team zeige sie mit dem Film zwar all die Fehler und Ungerechtigkeiten des US-Wahlsystems, „aber das macht uns nicht weniger patriotisch, wir können auch patriotisch sein“.
Sie will das Pathos nicht den Rechten und Ultrarechten überlassen und hofft, auch sie zu erreichen. Auch um „aus meiner Blase herauszukommen und die Menschlichkeit in uns allen zu erkennen“, sagt sie, „denn uns verbindet mehr als uns trennt“.
Als in Washington die Kamera auf den Asphalt geknallt war, erinnert sie sich, da seien andere aus dem Mob dazwischengegangen, hätten sie in Schutz genommen und sie Block für Block durch die Januarkälte zurück zu ihrem Auto begleitet.